Blaue und silberne Türmchen erhoben sich über Ananta, der befestigten Hauptstadt von Shalingar. Über dem Chanakya-See lagen Nebelschleier, zwischen denen winzig klein und friedlich Hausboote zu erkennen waren, die auf ihren Dächern sorgsam angelegte Gärten trugen, wie Hüte aus Moos.
Nur ich war alles andere als friedlich. Während ich den großen, mit unvergleichlichem Filigranwerk ausgestatteten Raum durchquerte, der meines Vaters Zufluchtsort war und dessen goldene und kristallene Gewölbedecke die Regale samt den darin stehenden Wälzern mit honigfarbenem Licht übergoss, zählte ich jeden meiner Atemzüge und versuchte sie zu kontrollieren, als könnte ich, wenn es mir gelänge, auch über mein Schicksal selbst bestimmen.
Als ich auf den Balkon trat, drang der Lärm von den Festivitäten auf den Straßen zu uns herauf. Fanfaren erschollen, Geschützdonner ließ die Palastmauern erzittern. Und gleich unterhalb dieser Mauern drehten sich in weiße Seide gehüllte Tänzer wie Kreisel in den Gassen, um die Taille grüne und rote Bänder. Kinder warfen Rosenblätter gen Himmel, die bei ihrer Landung die schlammigen Gassen zwischen den Häusern in rosafarbene Flüsse verwandelten. Durch diese Flüsse bahnten sich Elefanten ihren Weg, herausgeputzt mit spiegelbesetzten Decken, Quasten und festlichen Seidenbändern. Auf ihren Rücken trugen sie die höchsten Würdenträger Makedons. Grellbunte Laternen erleuchteten die Straßen und wiesen Kaiser Sikander den Weg in unser Haus.
Papa stand da und betrachtete die Feierlichkeiten. Als ich zu ihm trat, wandte er sich abrupt um, als hätte ich ihn aus einem Traum gerissen – oder war es ein Albtraum? „Shabahaat Shaam“, sagte ich und umarmte ihn liebevoll.
Er stutzte, und da wurde mir klar, dass er mich noch nie so festlich gekleidet und hergerichtet gesehen hatte: meine Wangen rot geschminkt, die Lippen purpurn gezogen, die Wimpern geschwungen und so dick und schwarz wie Spinnenbeine. Mein Körper war in einen kostbaren violett-goldenen Sari gewickelt, mein Haar zu einem hohen Turm gesteckt.
Stundenlang hatten Mala, meine Kammerfrau, und eine ganze Schar von Helferinnen mich wie ein Schwarm Bienen umschwirrt und vom Kopf bis zu den Zehen zurechtgemacht. Ein Tanz, der jedes Mal aufgeführt wurde, wenn das Reich wichtigen Besuch erwartete, doch heute hatte der Bienenschwarm einen derartigen Eifer an den Tag gelegt, als hätte ein unsichtbarer Taktgeber ihnen ein noch höheres Tempo vorgegeben.
„Nun halt doch mal still, Mädchen. Wenn ein mächtiger König zu Besuch kommt, muss eine Prinzessin nun mal herausgeputzt sein“, hatte Mala gesagt, während sie mein verfilztes Haar auskämmte und mit ihren geschickten Fingern die Knoten löste.
Ein mächtiger König.
Ein mächtiger König, der das Schicksal unseres Reiches in den Händen hielt, und mein eigenes Schicksal auch.
Rasch hatte Vater sich wieder gefasst.
„Shabahaat Shaam“, erwiderte er und lächelte mich an, dann wandte er den Blick wieder den überfüllten Straßen zu. „Manchmal vergesse ich, wie schön anzusehen mein Reich um diese Tageszeit ist. Nicht die Tänzer oder der Trubel da unten … sondern das Licht …“ Er schaute kurz zum Himmel hinauf, wobei er den Kopf schüttelte, als könnte er es gar nicht glauben. „Als wollten Sonne und Mond sich unserem kleinen Königreich von ihrer allerbesten Seite zeigen.“
„Aber Vater, das sind doch nur Himmelskörper“, warf ich ein. „Shree hat es mir im Astronomieunterricht erklärt: Sonne und Mond sind Himmelskörper. Und weil Shalingar sich so zum Ozean hin neigt …“, mit den Händen deutete ich die Krümmung der Erde an, „wird ihr Licht vom Wasser reflektiert.“
Mein Vater sah mich an und lachte. „Es könnte aber auch Zauberei sein“, neckte er mich, und seine Augen funkelten.
Ich schüttelte energisch den Kopf. „Ausgeschlossen.“
„Vielleicht hast du recht“, antwortete er leise, und einen Augenblick lang bereute ich meine Worte, weil sein Gesicht schon wieder ernst geworden war. „Eines Tages, wenn du die Welt bereist hast, wirst du begreifen, wie besonders Shalingar ist.“
„Aber das weiß ich doch schon, Vater“, erwiderte ich und seufzte. „Ach, wenn ich doch bloß für immer hierbleiben könnte …“ Ich brachte den Satz nicht zu Ende.
„Hast du selbst mir nicht immer in den Ohren gelegen, du möchtest die Welt bereisen?“, fragte er wehmütig. „Bald wirst du die Gelegenheit dazu haben.“ Doch seine Stimme verriet, wie wenig überzeugt er von dem war, was er sagte. Was uns in den nächsten Tagen bevorstand, war nicht die Art von „die Welt bereisen“, die wir im Sinn hatten, das wussten wir beide.
„Du und Sikander, ihr wart doch mal Freunde, nicht wahr?“, wechselte ich schnell das Thema.
Wenn er einmal Vaters Freund war, dann kann er doch nicht so schlimm sein, oder?, versuchte ich mich zum x-ten Male zu beruhigen. Die gleiche Frage hatte ich in den vergangenen Wochen so oder ähnlich allen im Palast gestellt.
„Das sind doch nur Legenden, die man über ihn hört, nicht wahr?“, hatte ich zum Beispiel Arjun, meinen besten Freund, noch gestern Abend gefragt, als wir durch die Palastgärten spaziert waren.
„Natürlich sind das nur Legenden.“
„Und dass er die Berater seines Vaters hat steinigen lassen?“
„Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen!“, hatte Arjun ebenso heftig wie bestimmt widersprochen. Den Rest des Spaziergangs aber war er so einsilbig geblieben, dass meine Zuversicht nicht gerade gewachsen war …
***
Nun wandte sich mein Vater mir zu und das Licht des Sonnenuntergangs erfasste seine Augen und verwandelte sie in pures Gold. Wir sahen uns ähnlich, mein Vater und ich, zumindest sagten das die Leute. Ich hatte seine Hände mit den schlanken Fingern geerbt, sein breites, ungezwungenes Lächeln und sein dunkles, gewelltes Haar.
„Freunde … so könnte man es nennen, ja. Aber das ist lange her. Das letzte Mal habe ich Sikander gesehen, da warst du noch ein Säugling. Jetzt werden die Karten neu gemischt.“ Die Unruhe in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich vermutete, dass er nicht gern darüber redete. Was die Vergangenheit betraf, so war er nie sehr gesprächig gewesen.
Trotzdem wusste ich über Sikander und über Makedon mehr, als meine Lehrerin Shree mir im Unterricht über die Seidenstraße und Sikanders Eroberungszüge erzählt hatte.
Ich wusste auch, dass mein Vater und Sikander sich als junge Soldaten an der Militärakademie von Makedon kennengelernt hatten. Damals waren sie sehr wohl Freunde gewesen, zumindest hatte Arjuns Vater Bandaka mir das erzählt, und der war Papas wichtigster Vertrauter.
Das alles war, bevor Sikander seinen eigenen Vater ermordet und sich selbst zum Herrscher ausgerufen hatte und mit seinem Heer durch Anatolien, Syrien, Phönizien und Judäa bis nach Baktrien gezogen war. Nachdem er auch Persien unterworfen hatte, gab man ihm den Beinamen „der Große“, und er befehligte das größte und schlagkräftigste Heer aller Zeiten. In kaum fünfzehn Jahren hatte er dank seiner Armee das Territorium seines Staates fast vervierfacht. Aber wer ist er wirklich? Wer war er damals, als Vater und er Freunde waren?
Ich versuchte es auf einem anderen Weg. „Wie hat es dir in Makedon gefallen?“, fragte ich.
„Auf eine Art ist es … sehr fortschrittlich. Die Gebäude sind so hoch, dass man kaum die Sonne sieht. Es gibt riesige Arenen, deren Bau Jahrzehnte gedauert hat und in denen Sklaven einander bis auf den Tod bekämpfen, während die Zuschauer sie johlend anfeuern. Praktisch jeder besitzt Sklaven.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Makedonen glauben nicht an die Gleichwertigkeit von Männern und Frauen. Den Herrscher zu kritisieren, gilt als schlimmstes Verbrechen. Und sie lieben den Krieg, sehr sogar.“
Ich fragte nicht weiter, denn mir war bewusst, dass es im Grunde einerlei war, wie es in Makedon aussah – ich würde es sowieso nur von meinem Fenster aus in Sikanders Harem sehen, in dem ich zusammen mit all seinen anderen Frauen leben würde. Nie würde ich die großen Städte der Welt besuchen oder über unser kleines Reich herrschen wie mein Vater, ich wäre nichts weiter als eine Gefangene in Sikanders juwelengeschmücktem Zenana voller Püppchen.
Der Gedanke daran, das wusste ich, machte Vater krank – genauso wie mich.
Ich wollte mich nicht damit abfinden, dass mein Schicksal besiegelt war, doch wir beide wussten, dass er kaum eine andere Wahl hatte. Wenn er Sikanders Antrag, mich zu heiraten, zustimmte, bliebe Shalingar unangetastet und gewönne einen mächtigen Verbündeten. Weigerte er sich aber, würde er Sikander unweigerlich vor den Kopf stoßen und seine Rache heraufbeschwören, wie andernorts schon geschehen.
Tatsächlich wurde erwartet, dass wir uns glücklich und tief geehrt schätzten, dass Sikander diplomatische Beziehungen zu unserem kleinen Königreich aufnehmen wollte. Das war Sikanders neue Strategie, nachdem er bald die halbe Welt erobert hatte. In Wirklichkeit war es das Einzige, was den kleinen Königreichen blieb, die er noch nicht unterworfen hatte: Willige in alle Bedingungen Sikanders ein, was Handelsbeziehungen, die Errichtung neuer Handelswege von Ost nach West sowie das Schicksal deiner Söhne und Töchter betrifft, und er wird dir ein mächtiger Freund sein.
Verärgere ihn, widersprich ihm, hinterfrage seine Absichten, und du musst mit dem Schlimmsten rechnen.
Nicht nur um meine Zukunft sorgte Vater sich, sondern auch um die Zukunft unseres Reiches. Sollte ich Sikander zum Gemahl nehmen und er unser Verbündeter werden, würden wir dann auch die makedonischen Sitten übernehmen müssen?
Es war auch ausgemacht, dass Arjun in wenigen Wochen nach Makedon aufbrechen sollte, um an der dortigen Militärakademie zu studieren – der besten der Welt. Lange Zeit hatte ich fest daran geglaubt, mit ihm gehen zu können, und ich erinnerte mich noch genau an den Tag, als ich erfuhr, dass dort keine Mädchen zugelassen wurden. Es bestürzte mich zutiefst, dass das Leben einer Frau in Makedon so beschränkt sein sollte. Im Obersten Rat von Makedon saß nicht eine einzige Frau, und sämtliche Gesandte und Gelehrte, die Makedon nach Shalingar geschickt hatte, waren Männer. Frauen in Makedon durften kein eigenes Geschäft betreiben und schon gar nicht arbeiten. Nicht einmal zur Schule oder unbegleitet auf die Straße gehen durften sie.
„Warum bist du nie nach Makedon zurückgekehrt?“, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung. Eine naheliegende Frage, denn mein Vater hatte Gesandtschaften in die ganze Welt angeführt, um Bündnisse zu schließen. Nur an den Ort, an dem ich geboren wurde, war er nie zurückgekehrt.
Vater blickte weiterhin auf den Horizont. Die Parade zu Ehren von Sikanders Besuch näherte sich ihrem Ende, die Menschenflut war gewichen, und die meisten von Sikanders Gefolgsleuten waren bereits innerhalb der Palastmauern, wo sie darauf warteten, von uns empfangen zu werden.
Erwartungsvoll sah ich meinen Vater an, und mir war klar, dass sich hinter meinen Fragen nach seiner Zeit in Makedon noch etwas anderes verbarg. Eine Frage in der Frage, ähnlich den Puppen, mit denen ich als Kind gespielt hatte, wo jede die nächstkleinere in sich trug. Eigentlich war ich auf der Jagd nach Hinweisen, so unbedeutend sie auch sein mochten, über meine Mutter, die er damals in Makedon kennengelernt hatte.
Ob Sikander meine Mutter auch gekannt hat?
„Dazu gab es keinen Anlass“, sagte er und betrachtete nun wieder das Treiben auf den Straßen. Ich folgte seinem Blick und bemerkte, dass die weiß gekalkten Häuser im Licht der Abendsonne wie errötet waren. Diese Verwandlung, dieses Imperium in Rosa hatte mein Vater vorhin mit seiner Bemerkung über das Licht gemeint.
Manchmal machte ich mir bewusst, wie vieler Zutaten es bedurfte, um diese Dinge zu erschaffen, die doch so einfach schienen – ein rosafarbener Himmel, ein außergewöhnlicher Tag, Familienglück, eine tiefe Freundschaft, ein Moment reiner Freude.
Und wie wenig es bedurfte, dieselben Dinge zu zerstören. Es erschien mir so viel einfacher.
„Ich wünschte, deine Mutter wäre hier, um dir alles zu erklären“, unterbrach mich Vater unvermittelt in meinen Gedanken.
Ich sah ihn verblüfft an. Noch nie hatte er meine Mutter erwähnt, und wie sehr ich es mir auch immer gewünscht hatte, so sehr war ich doch erstaunt, nun diese Worte aus seinem Mund zu hören.
Sie war das Geheimnis, das es unbedingt für mich zu lüften galt. Sie erschien mir in meinen Träumen, mit den gleichen grünen Augen wie ich, und sagte mir, wie sehr sie mich liebte, wie sehr sie mich vermisste. Wie sehr sie sich danach verzehrte, bei mir zu sein, wo immer sie auch war … falls sie überhaupt noch lebte.
„Was denn?“, fragte ich vorsichtig.
„Das, was dir nun bevorsteht, Amrita.“ Papa schüttelte den Kopf. „Am liebsten würde ich zurück in die Zeit reisen und die Dinge ungeschehen machen.“ Er zögerte. „Und ich wünschte, deine Mutter wäre hier und könnte dir alles über die Ehe erzählen. Ich bereue es so sehr, und nun kommt alles zurück und verfolgt mich, die Vergangenheit, und ich …“
„Hoheit?“ Von der Tür erklang Arjuns Stimme. Wir fuhren herum und im ersten Moment hätte ich ihn fast nicht wiedererkannt.
Arjun, der sonst immer nur einen Kurta Pajama und Hosen trug, war in einen wunderschönen blau-goldenen Khalat gekleidet. Sein sonst ewig ungebändigtes Haar, durch das er sich ständig mit den Fingern fuhr, war ordentlich gekämmt. Er wirkte irgendwie größer, mehr ein Mann als der Junge, der mich beim Nachlauf im Mangohain vor der Unterkunft seiner Familie jagte.
„Es ist Zeit“, verkündete er, ein schmales Lächeln auf den Lippen.
Einen Moment lang suchten seine Augen die meinen, sahen dann schnell weg.
„Geh schon vor, Amrita. Arjun wird dich begleiten“, sagte Vater und küsste mich auf die Stirn.
Um ihn aufzumuntern, drückte ich seinen Arm. Mir schwirrte noch im Kopf herum, was er über meine Mutter gesagt hatte, über seine Reue. Wie gern hätte ich mehr erfahren, doch der Augenblick war vorüber.
„Geh jetzt“, sagte er noch einmal, sanfter diesmal. „Du wirst unten erwartet. Ich komme gleich nach.“
Ich gehorchte, und während ich die Bibliothek durchquerte, fielen mir Arjuns breite Schultern auf, der Schatten auf seinem rasierten Kinn. Plötzlich huschten seine dunklen Augen zu dem Regal zu meiner Rechten und ich folgte seinem Blick: Zwischen den Bänden funkelte etwas. Möglichst unauffällig fuhr ich mit der Hand über das dunkle Holz, bis ich auf etwas Kleines, Kühles stieß, das zwischen zwei Folianten steckte. Noch ehe ich es sah, wusste ich, was es war.
Ein Ring.
Mir stockte der Atem. Rasch schaute ich zurück zu meinem Vater, um sicherzugehen, dass er nichts bemerkt hatte, und schloss die Hand um den kleinen Schatz. Statt eines Schmucksteins wölbte sich das Gold zu den Blättern einer Jasminblüte auf. Ich streifte den Ring über meinen Finger. Er saß perfekt.
„Danke“, flüsterte ich und erwiderte Arjuns Lächeln.
„Ein Glücksbringer für dich.“ Arjuns Augen leuchteten.
Heimliche Geschenke – das war unsere Sprache seit jeher.
Schon als wir klein waren, hatten wir damit angefangen. Arjun durfte den Palast verlassen, wann immer er wollte, worum ich ihn stets beneidet hatte. Zwar durfte ich auch hinaus, doch wenn ich die Welt jenseits der Palastmauern betreten wollte, wurde jedes Mal ein solcher Aufstand gemacht, dass ich die Lust verlor und am liebsten ganz darauf verzichtet hätte. So musste ich zum Beispiel auf Vaters Anordnung hin mein Gesicht mit einem Schleier verbergen.
„Deine Identität muss geheim bleiben“, beharrte er. „Wenn die Leute dich erkennen, verhalten sie sich dir gegenüber nicht mehr normal. Oder“, pflegte er mit strenger Stimme hinzuzufügen, „du könntest zur Zielscheibe werden.“
Und dann musste ich mich auch noch von einem Mann der Palasteskorte begleiten lassen, was das Vergnügen endgültig zunichtemachte. Arjun hingegen hatte die ganze Welt bereist, zunächst mit seinen Eltern, in letzter Zeit allein.
Immer wenn er wegfuhr, belagerte ich ihn bei seiner Rückkehr und verlangte einen Bericht über die Dinge, die er gesehen hatte. Meist blieb er vage.
„Ich war in einem Tempel.“
„In welchem Tempel?“
„Er steht auf einem Berg und ist ganz aus dem roten Fels gehauen.“
„Und wer geht da so hin, zu diesem Tempel?“
Er zuckte die Schultern. „Leute.“
„Was für Leute? Wo leben sie? Zu wem beten sie in diesem Tempel?“, fragte ich zunehmend ungeduldig.
Je mehr ich nachbohrte, desto unwilliger wurde Arjun. Manchmal setzte er sich auch hin und sagte gar nichts mehr, fuhr sich nur nervös mit den Fingern durchs Haar, aus einer Ahnung heraus, dass seine Antworten meine Neugier sowieso niemals befriedigen würden. „Das ist doch alles nicht so wichtig, Amrita. Ich kann die Dinge nicht so gut beschreiben wie du. Du bist doch die Geschichtenerzählerin von uns beiden.“
„Aber du bist der, der auf Reisen geht.“
„Na und?“
„Na, da könntest du mir wenigstens etwas mitbringen.“
Und das tat er auch, immer. Vom Meer eine Muschel. Aus der Wüste ein versteinertes Seepferdchen. Aus dem Tempel ein Gewinde aus Jasmin. Von einem Markt ein Seidentuch. Ich besaß eine ganze Sammlung von Dingen, die Arjun mir von der Welt da draußen mitgebracht hatte und überall im Palast versteckte, damit ich sie fand. Manchmal legte er eine Spur: eine Notiz in einem Buch, Pfeile aus Kieseln in dem Mangohain vor seinen Gemächern, manchmal auch nur eine heimliche Geste oder ein Blick.
Mit der Zeit hatte ich mich damit abgefunden, dass er sich besser mit Geschenken ausdrücken konnte als mit Worten.
Ich drehte den Ring in meiner Hand, während wir, an allerlei Topfpalmen vorbei, die breiten, von Säulen getragenen Flure des Westflügels entlanggingen, wo die Privatgemächer untergebracht waren. Unsere Schuhe klackerten über den schwarz-weißen Steinboden.
„Ich habe ihn extra für dich anfertigen lassen“, flüsterte er. „Von einem Handwerker in Ananta. Ich weiß ja, dass Jasmin deine Lieblingsblume ist. Du kannst den Duft ja nicht mitnehmen, wenn du nach …“ Er verstummte, als wollte er es nicht aussprechen, als wollte er es nicht wahrhaben. „Und da sollst du dich daran erinnern …“